Lange Nacht der Demokratie in Mödlareuth

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"Morgen wird es turbulenter, genießt noch einmal die Ruhe!“, ruft ein Mitarbeiter des Deutsch-Deutschen Museums Mödlareuth den Enten zu, die am Dorfteich in Scharen auf den Gehwegen schnattern. Den ganzen Tag hat es geregnet, aber nun nutzen wir einen Fetzen Sonnenschein, um das neugestaltete Außengelände für die Abendveranstaltung abzugehen. Besorgt schauen wir zum Himmel, der sich schon jetzt wieder zuzieht. „Ich fürchte, am Mauerabschnitt kann die Mahnwache nicht stattfinden.“, bemerke ich enttäuscht. Eigentlich wollten wir hier, direkt am Grenzstreifen zwischen Ost und West, wo früher die Militärfahrzeuge im geteilten Dorf Streife fuhren, unsere Mahnwache feiern. Uns erinnern, was Demokratie und friedliches Verändern bewegen können. Uns dankbar zeigen, dass das geteilte Dorf, dass das geteilte Deutschland nun mehr nur noch ein böser Traum der Vergangenheit ist. Das Überwachungsmethoden, Misstrauen und totalitäre Staatsstrukturen zumindest in Deutschland der Vergangenheit angehören. Doch wir müssen kurzfristig umdisponieren.

Der Mitarbeiter des Museums führt mich in eine Fahrzeughalle – eine behelfsmäßige Lösung. In dem großen Raum stehen alte Polizeifahrzeuge, Hubschrauber und Militärfahrzeuge. Kein typischer Veranstaltungsort, aber es gibt genug Platz. „Das müsste gehen“, sage ich mir, während ich den Raum betrachte. Ob allerdings so viele Menschen kommen werden, um die Halle zu füllen, ist fraglich. Mödlareuth liegt abseits der regionalen Zentren. Das Dorf hat nur 43 Einwohner. Und an diesem Abend, so scheint es, könnte die Veranstaltung an ihrer Abgeschiedenheit und dem ungemütlichen Wetter scheitern.

Die Lange Nacht der Demokratie: Eine junge Tradition

Seit 2012 findet die „Lange Nacht der Demokratie“ in Bayern statt. Ursprünglich in Augsburg ins Leben gerufen, hat sie sich inzwischen in zahlreichen bayerischen Städten etabliert. Die Veranstaltung lädt Bürgerinnen und Bürger dazu ein, über Demokratie zu diskutieren, zu philosophieren und sie zu feiern. In der Nacht vor dem Tag der Deutschen Einheit soll Demokratie nicht nur Thema sein, sondern erlebbar werden. Eine Idee, die besonders in Zeiten populistischer Strömungen und gesellschaftlicher Spaltungen wichtiger denn je erscheint.

Die Demokratie groovt

In der Halle ist es kurz vor sieben. Alles ist vorbereitet: Eine Bluetooth-Box, ein Mikrofon und eine Akustikgitarre. Rudi Feiler, Organist in der Kirchengemeinde Töpen und die musikalische Allzweckwaffe der Glaubensgemeinschaft, kümmert sich thermoskannenbewehrt um die Technik, Christian Munzert, Student aus Naila, stimmt die Seiten des Instruments. Beim Soundcheck grooven wir uns aufeinander ein. Die ersten Gäste betreten zögerlich den Raum. „Wir wussten nicht, ob es voll wird“, sagt eine Besucherin. Der Abend beginnt schleppend, doch langsam füllt sich die Halle, bis es mit ca. hundert Personen sogar richtig voll wird. Vor allem junge Menschen sind gekommen, trotz des Regens, der inzwischen wieder einsetzt. Sie mischen sich unter erwachsene Besuchende aus der Stadt Hof und dem Landkreis, die sich warm in Funktionsjacken gehüllt haben.

Doch dann trifft eine schlechte Nachricht ein: Der Demokratie-Bus, ein Symbolprojekt des Bundesprogramms „Demokratie leben! in der Mitte Europas, hat eine Panne. Eigentlich sollte er das Junge Theater Hof durch den Landkreis bringen – eine mobile Bühne, die Demokratie auch zu entlegenen Orten trägt. Doch nun kommt alles später. Als das Theater schließlich eintrifft, schafft es der Bus nicht bis hinauf zur Fahrzeughalle. Die jungen Schauspielenden müssen den letzten Weg zu Fuß zurücklegen.

Demokratische Werwölfe

Die Jugendlichen, die draußen ungeduldig gewartet haben, strömen nun in die Halle, während der Regen stärker aufwallt. Dort angekommen, beginnt das Junge Theater sogleich mit seiner Performance. Sie spielen das Spiel „Die Werwölfe von Düsterwald“ – ein interaktives Gesellschaftsspiel, das auf Misstrauen und Diskussion basiert. Zwei Bürgermeister der umliegenden Gemeinden spielen ebenfalls mit, aber es sind die Jugendlichen, die das Spiel dominieren. Sie wählen einen von ihnen zum Bürgermeister, und die Werwölfe wählen ihre Opfer. Bald wird klar: Das Spiel ist ein Sinnbild für demokratische Prozesse. Die Emotionen kochen hoch, doch erst durch Argumente und Diskussion wird das Spiel entschieden.

In der Nachbesprechung reflektieren die Jugendlichen: Demokratie bedeutet, zu verhandeln, zuzuhören und eigene Vorurteile zu hinterfragen. Diese Lektion scheint in der improvisierten Umgebung der Fahrzeughalle noch intensiver zu wirken.

Miteinander der Generationen

Was die „Lange Nacht der Demokratie“ so besonders macht, ist das Zusammentreffen von Menschen, die sich im Alltag selten begegnen. Hier, in einem Raum voller historischer Relikte, stehen Kommunalpolitiker neben Grundschülern, und Jugendliche diskutieren mit Aktivistinnen. Die Atmosphäre ist entspannt, aber dennoch geprägt von einem gemeinsamen Bewusstsein: Demokratie ist kein Selbstläufer. Sie lebt von Begegnung und Austausch.

Als schließlich die Mahnwache beginnt, ergreift Alexander Kätzel (39) das Wort, Bürgermeister der Gemeinde Töpen, zu der auch Mödlareuth gehört. Er spricht offen darüber, wie er vor wenigen Jahren entschieden hat, das Amt des Bürgermeisters anzustreben – eine Entscheidung, die ihm Respekt bei den Jugendlichen einbringt. „Man kann den Menschen nichts vormachen“, sagt er. Diese Aufrichtigkeit beeindruckt.

Eine Stimme für die Jugend

Dann erheben die jugendlichen Rednerinnen des Abends, Marie-Isabel Gerstner (20, Erzieherin im Anerkennungsjahr) und Rahel Westerhoff (19, Aktivistin bei Fridays for Future und Queer Life Hof e.V.) ihre Stimmen. Gerstner liegen besonders die Rechte der Kinder und Jugendlichen am Herzen. Sie endet ihre Rede mit einer klaren Aufforderung: „Lasst uns heute und jeden Tag dafür arbeiten, die Menschenwürde zu achten, Kinderrechte zu schützen und sicherzustellen, dass jeder Mensch die Möglichkeit hat, sein Potenzial voll zu entfalten und seine Stimme zu erheben. Nur so können wir eine gerechte und menschliche Zukunft für alle gestalten.“

Westerhoffs Rede ist kritisch und direkt. Sie hinterfragt das Schulsystem als in Teilen undemokratisch und bevormundend, wünscht sich mehr Partizipation. Diese hat sie persönlich in der Jugendarbeit der Evangelischen und der Katholischen Kirche erlebt. „Die Stärke der Jugendarbeit ist, dass wir Jugendlichen dort wirklich gehört werden und uns beteiligen dürfen.“ Die junge Frau betont, dass queere Personen um ein Vielfaches häufiger Diskriminierung, Gewalt und Mobbing ausgesetzt sind als der Durchschnitt der Bevölkerung. Sie schließt mit einem bewegenden Satz: „Demokratie ist für mich: Eine Stimme zu haben!“

Christentum und Demokratie gehören zusammen – hoffentlich für immer

 Die Lange Nacht der Demokratie ist ein Paradebeispiel für niedrigschwellige politische Bildung – und ist dabei tiefsinnig, anregend und durchaus fordernd für alle, die sich darauf einlassen. Dabei ist auch hier in der Fahrzeughalle der Spagat, die Bedürfnisse aller Generationen wahrzunehmen und interaktive mit informativen Blöcken abzuwechseln. Engagiert spricht als letzter Redner Dekan Andreas Müller, der leitende Geistliche des Evangelisch-Lutherischen Dekanats Hof zu den Anwesenden. Er betont, dass Christentum und Demokratie nicht von Natur aus zusammengehörten, sondern Christ*innen sich jahrhundertelang mit obrigkeitsorientierten Staatsformen identifizierten und diese auch religiös mitlegitimierten. Er zeigt sich daher erfreut, dass in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg die zwei großen Kirchen zunehmend Verantwortung für und in unserer Demokratie übernahmen und zahlreiche Politiktreibenden aus ihrem christlichen Glauben Kraft für ihre Arbeit am Gemeinwohl schöpften. Frieden und Bewahrung der Schöpfung waren dabei den Kirchen insbesondere seit den 70er-Jahren ein Herzensanliegen. „Ich freue mich, dass Fridays for Future heute unser Anliegen aufgenommen hat und uns ‚Alten Jugendlichen‘ konsequent den Spiegel vorhält, wo wir mit unserem Engagement nicht weit genug gegangen sind.“, betont Müller an Aktivistin Rahel Westerhoff gerichtet. Er macht unmissverständlich deutlich, dass eine Mitgliedschaft in einer als teilweise gesichert rechtsextrem geltenden Partei mit kirchlichen Leitungsämtern unvereinbar sei. Sein Wunsch bleibt, dass die Verbindung von Christentum und Demokratie bestehen bleibe, auch wenn sie nicht von Grund auf im Christentum angelegt war. Diesen Wunsch teilt er wohl mit vielen hier in der Museumshalle.

Ein Licht für die Demokratie

Von guten Mächten wunderbar geborgen – so wünschen sich alle unseren Rechtsstaat. Mit dem Lied des Theologen Dietrich Bonhoeffer neigt sich die vielfältige Mahnwache langsam dem Ende zu. Pfarrer Stefan Fischer aus der Hospitalkirche Hof, ein Mitinitiator der Mahnwache, verteilt leuchtende Knicklichter an die Anwesenden. „In vielen Farben leuchten sie, wie unsere Demokratie. Nehmt sie mit nach Hause, als Erinnerung, dass Demokratie und Menschenwürde nicht nur heute Abend in unserem Leben strahlen sollen, sondern jeden Tag.“ Innerhalb kürzester Zeit leuchten überall die Handgelenke, viele wollen gleich zwei Lichter nehmen. Pfarrer Fischer spricht einen poetischen Segen.

Morgen werden die Enten am Dorfteich wenig Ruhe finden. Zum traditionellen Deutschlandfest der CSU kommen jedes Jahr am 3. Oktober hunderte Besucher. Während sich die Besucher langsam auf den Heimweg machen, leuchten durch das kleine Dorf Mödlareuth über 100 bunten Lichter. In den kommenden Tagen wird hier wieder Ruhe einkehren, doch die Eindrücke dieses Abends werden noch lange nachwirken – ein kleiner, aber bedeutender Beitrag zur Stärkung der Demokratie in Zeiten, in denen sie immer wieder aufs Neue verteidigt werden muss. Die Besuchenden der Mahnwache für Demokratie und Menschenwürde des Evangelisch-Lutherischen Dekanats Hof tragen sie mit nach Hause. Erfüllt von Eindrücken, Erlebnissen, Wünschen für unsere Demokratie. Bewegt von echten Geschichten demokratisch gesinnter Menschen. Belebt vom vollen Klang unserer Demokratie, deren Zukunft auch in ihren Händen liegt.

 

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